Frischer Wind in den Anden

Von Barbara J. Fraser · · 2001/09

Auf Perus neuem Präsidenten lasten große Erwartungen – und ein großer Haufen ungelöster Probleme. Die Vorsätze des Wirtschaftsexperten indianischer Herkunft sind gut; nun müssen die Taten folgen.

Alejandro Toledo kann mit viel Vorschusslorbeeren starten: 74 Prozent der PeruanerInnen glauben, dass der neue, in den USA zum Ökonomen ausgebildete Staatschef, der stolz immer wieder auf seine Herkunft als Sohn indianischer Bauern und als Schuhputzer verweist, gute Arbeit leistet.

Doch die Schonzeit wird nicht lange andauern. Die großen und unmittelbaren Herausforderungen für die neue Regierung sind die Bekämpfung der Korruption und eine Reaktivierung der seit drei Jahren stagnierenden Wirtschaft. Eine monumentale Aufgabe, wobei das eine mit dem anderen eng verknüpft ist.

Toledos Wahlsieg am 3. Juni beendete eine acht Monate amtierende Übergangsregierung unter der Führung des Verfassungsrechtlers Valentín Paniagua. Dieser beschäftigte sich vor allem mit der Aufdeckung des riesigen Korruptionsnetzes, das der „Präsidentenberater in Fragen der nationalen Sicherheit“, Vladimiro Montesinos, im Jahrzehnt der Fujimori-Herrschaft (1990 bis 2000) in Peru aufgebaut hatte.

In Verbindung mit diesem Skandal stehen gegenwärtig über 550 Personen in Untersuchung. Im Herbst musste Montesinos ?üchten und Fujimori kündigte die Abhaltung von Neuwahlen an, zog es aber bald darauf auch vor, das Land zu verlassen.

Der ehemalige Staatschef fühlt sich nun im selbstgewählten japanischen Exil sicher. Da er im Geburtenregister der Gemeinde seiner Eltern aufscheint, verlieh ihm die japanische Regierung die Staatsbürgerschaft – und zwischen Peru und Japan besteht kein Auslieferungsabkommen. Die einzige nachweisliche strafbare Handlung Fujimoris ist gegenwärtig nur das Verlassen eines öffentlichen Amtes. Die Untersucher sind Bankkonten des Expräsidenten auf der Spur, jedoch noch nicht fündig geworden.

In kürzester Zeit führte die Paniagua-Regierung erstaunliche Reformen durch. Sie stellte die Unabhängigkeit des Justizwesens wieder her, das seit Fujimoris Putsch von 1992 zu einer Zweigstelle des Präsidentenamtes degradiert war, und bereitete die Abhaltung korrekter Wahlen vor. Und sie befasste sich erfolgreich mit der Demontage jenes Korruptionsnetzes, in das große Teile des peruanischen Establishments verstrickt waren.

Nach Meinung von BeobachterInnen sitzen Montesinos-Leute immer noch an ein?ussreichen Stellen. Die große Bewährung für die neuen Machthaber steht noch aus: Nachdem Montesinos in Venezuela festgenommen und am 24. Juni nach Peru ausgeliefert wurde, erwartet ihn nun in seiner Heimat der Prozess – u.a. wegen Erpressung, Bestechung von Staatsfunktionären, Drogen- und Waffenhandel.

Bis jetzt wurden über 870 Millionen US-Dollar auf ausländischen Banken aufgefunden, die mit Montesinos in Verbindung gebracht werden – man schätzt, dass die Summe eine Milliarde übersteigen wird. (Da nimmt sich das Gehalt von 1 Mio. US-Dollar, das Montesinos zehn Jahre lang vom US-Geheimdienst CIA bezog, als ärmliches Taschengeld aus!) Dutzende Generäle, Unternehmer, Parlamentarier, Bürgermeister und Richter, darunter der ehemalige Generalstaatsanwalt, be?nden sich im Gefängnis oder unter Hausarrest.

Nach einer Schätzung von Toledos Außenminister Diego García Sayán, der unter Paniagua als Justizminister eine wichtige Stelle einnahm, kostete die Korruption in der zweiten Hälfte der 90er Jahre dem Land jährlich an die zwei Milliarden Dollar. Er berechnete, dass bei einer Senkung des Korruptionsniveaus auf den Durchschnitt westlicher Staaten das Bruttoinlandsprodukt jährlich um 1,5 Prozent steigen würde und dadurch 63.000 neue Arbeitsplätze geschaffen werden könnten.

Über zwölf Millionen PeruanerInnen – 48,4 % der Gesamt- und 70 % der ländlichen Bevölkerung – leben unter der Armutsgrenze, 15 % in extremer Armut. 1997 waren es noch 42,7 %.

Nach allen Meinungsumfragen ist die größte Sorge der Menschen die Arbeitslosigkeit. Auf dieser Tatsache baute auch Toledo seinen Wahlkampf auf. Of?ziell gelten zwar nur 7,4 % als arbeitslos, doch liegt der Anteil der Unterbeschäftigten bei 43 %, von denen viele im informellen Sektor ohne regelmäßiges Einkommen und ohne Anspruch auf Sozialleistungen arbeiten.

Unmittelbar nach seiner Wahl Anfang Juni startete Toledo seine Bemühungen, für seine Wirtschaftsprojekte internationale Finanzhilfe aufzutreiben. Langfristig hat sich Toledos Expertenteam vorgenommen, die privaten Investitionen auf mindestens 20 % des Bruttoinlandsprodukts anzuheben. Binnen fünf Jahren sollen die Einnahmen aus den Exporten und aus dem Fremdenverkehr verdoppelt werden. Für die nationale Industrie, die Landwirtschaft und das Kleingewerbe sind besondere Fördermaßnahmen vorgesehen. Auch in den Bereichen Erziehung und ländliche Infrastruktur soll mehr investiert werden.

Wirtschaftsminister Pedro Pablo Kuczynski will durch die Bereitstellung von Krediten und technischer Beratung das Kleingewerbe besonders fördern; Arbeitsminister Fernando Villarán ist ein Experte auf dem Gebiet der Kleinst-Unternehmen. Ein Problem in diesem Bereich ist jedoch die Instabilität der Beschäftigung. Viele dieser Unternehmen sind Familienbetriebe im informellen Sektor, die keine regelmäßigen Löhne zahlen.

Gewerkschaftsorganisationen verlangen ein Ende der „?exiblen“ Arbeitsgesetze und des Abbaus der Arbeitsrechte, die die Fujimori-Periode kennzeichneten. Die öffentlich Bediensteten, einschließlich Polizei und LehrerInnen, verlangen eine Erhöhung ihrer Gehälter, die oft nur dem Mindestlohn von 410 Sol (etwa 117 Dollar) entsprechen.

Ein weiteres Vermächtnis der Vorgänger Toledos ist die lange Geschichte der Straflosigkeit von Menschenrechtsverletzungen. Diese geht nicht nur auf Fujimori, sondern auch auf Expräsident Alan García (1985 – 1990) zurück, der Toledo im zweiten Wahlgang gefährlich nahe kam.

Noch im Juli hat die Paniagua-Regierung eine Wahrheitskommission ernannt, die nun die Menschenrechtsverletzungen aus der Zeit von 1980 bis 2000 aufarbeiten soll. Diese Periode beinhaltet den zwölfjährigen Kampf gegen die maoistische Guerilla-Organisation Leuchtender Pfad und die marxistische Tupac Amaru-Bewegung, in dessen Verlauf etwa 30.000 Personen ums Leben kamen und zwei- bis viertausend Menschen verschwanden.

Seit dem Sturz des Fujimori-Regimes wurden mehrere Massengräber entdeckt, besonders in den Hochlandprovinzen von Ayacucho und Huancavelica.

Die ersten Untersuchungen dieser Wahrheitskommission beschäftigen sich mit der Aufklärung eines Massakers an Bauern durch die Armee in Cayara, Provinz Ayacucho, noch in der Zeit von Präsident García. Auch zwei andere bekannte Mordfälle mit offenbar politischem Hintergrund – die Ermordung von 15 Personen bei einem Gartenfest in Lima 1991 und von neun Studenten und einem Universitätsprofessor 1992 – werden nun untersucht.

Es wird für Toledo kein Leichtes sein, seine Vorhaben auch umzusetzen. Er muss mit einem zersplitterten Parlament arbeiten, in dem seine Partei „Perú Posible“ nicht die Mehrheit hat. Die Abgeordneten haben nun mehrere Wochen in inner- und zwischenparteilichen Grabenkämpfen um die Verteilung der verschiedenen Kommissionsleitungen gestritten. Sieben kleinere Parteien haben Toledo ihre Unterstützung zugesagt, zumindest bei bestimmten Vorhaben, und Alan García hat versprochen, dass seine APRA-Partei keine aggressive Oppositionspolitik betreiben wird.

Auch wenn die kommenden fünf Jahre für Toledo noch genügend Hindernisse bereithalten werden, so ist der Wind der Veränderung im Andenstaat bereits spürbar. Einen in der Geschichte Perus einmaligen Meilenstein setzte der neue Präsident am 29. Juli, als er einen Tag nach seiner Amtsübernahme mit seinem Kabinett und vielen Geladenen nach Cuzco ins Herz des ehemaligen Inka-Reichs ?og. In der Ruinenstadt Machu Picchu bat Toledo in einer symbolträchtigen Zeremonie die Apus, die Berggeister, um Schutz und Beistand.

Anschließend gab es in den Inka-Ruinen oberhalb von Cuzco ein großes Fest. Die Nachfahren der früheren Herrscher der Anden überreichten dem neuen Präsidenten Perus traditionelle Gaben, ließen ihn hochleben und tanzten – und hofften, dass der indianische Schuhputzerjunge, der es bis zum höchsten Amt im Staat gebracht hat, sie in Zukunft nicht vergessen wird.

Übersetzung von Werner Hörtner.

PS: Zu Perus jüngster Geschichte vergleiche auch die Berichte in SWM 6/00 (S.18/19) und 4/01 (S.19).

Die Autorin, eine US-amerikanische Journalistin, lebt und arbeitet in Lima als Redakteurin der Zeitschrift „Noticias Aliadas“ und Korrespondentin mehrerer ausländischer Medien.

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